Die Arbeit am Stein

Pi Ledergerber arbeitet vor allem mit Stein. Aus diesem beständigen und harten Material erschafft er seine Skulpturen: Fragile Stäbe, die sich an die Wand anlehnen und so ihre Leichtigkeit und ihre Verletzlichkeit offenbaren; Mächtige, "aufgeschichtete" Säulen, die im Spiel der Verschiebung der Horizontalen einen Hang zur Bewegung zeigen bis hin zum optisch labilen Gleichgewicht; Platten aus Schiefer - dünn und zerbrechlich - die mit ihren muschelförmigen Vertiefungen an Landschaften erinnern, den Tastsinn ansprechen und in ihrer Reduzierung eine bildhafte Wirkung haben; Quader, die in Kontrast zum Amorphen des Steins treten.

Diesen Werken ist gemeinsam, dass sie nicht durch Aufbau, sondern durch Abbau durch Material aus einem Monolithen erschaffen werden. Mi Hilfe der verschiedenartigen Verfahren von (Ein-)Schneiden und dem gezielten Wegschlagen in mehreren Arbeitsschritten dringt Ledergerber in das zunächst geschlossene Volumen ein. Er reagiert dabei auf das Verhalten des Steins und arbeitet schichtweise in einem fortschreitenden Prozess. Der Bildhauer setzt sich mit den materiellen Vorgaben auseinander und erhält dabei die spezifische Individualität des jeweiligen Steins.

Ledergerbers Skulpturen zeigen sich in einfachen Formen. Diese Schlichtheit macht den Blick frei, um sie präzise wahrzunehmen. Man erkennt, dass die scheinbar geschichteten Arbeiten aus einem einzigen Steinblock herausgearbeitet wurden, bemerkt geradlinige Schnitte von der Diamantsäge, sieht Bohrlöcher, die vom Spalten her rühren und als Rundöffnungen sichtbar bleiben, beobachtet Risse, die sich über oder durch die ganze Skulptur ziehen. Diese Spuren lenken den Blick um die Skulptur herum und veranlassen den Betrachter, die Skulptur zu umgehen, um ihren Verlauf und ihren Formaufbau von allen Seiten zu erfassen und zu begreifen.

Für den Bildhauer ist auch die Textur des Steins in ihrer visuellen Qualität wichtig. Er greift damit Momente der Malerei auf und macht die Gattungsgrenzen fliessend. Das Zusammenspiel von optischen und taktilen Werten steigert noch die ästhetische Präsenz der Skulpturen. Durch die Wirkung des Lichts auf Erhebungen und Bruchstellen gewinnen die Skulpturen an Lebendigkeit und Tiefe. Ledergerber benutzt Licht und Schatten als Gestaltungselemente, um die Eigenheiten des natürlichen Materials zu unterstreichen, sowie den Stein zu strukturieren und zu rhythmisieren. Es entsteht dadurch diese ganz natürliche Einfachheit, die Pi Ledergerbers Werke auszeichnet.

Arbeitsspuren haben in Ledergerbers Werken eine doppelte Funktion: Sie lassen Entstehungsprozesse, Arbeitsschritte und Gliederungen klar einsehbar und konstituieren zugleich einen bildhaften Charakter. Der Betrachter kann Entstehung und Ganzheit der Skulpturen erkennen, wenn er sich darauf einlässt.

Pi Ledergerbers Skulpturen - seine Stelen, Säulen, Platten, Würfel und Quader - haben eine ungeheure Präsenz. Der Künstler lässt in diesen geschichteten, bewegten und fragilen Werken die für den Stein charakteristische Schwere, Festigkeit und Wucht vergessen, fordert uns auf, mit dem Seh- und Tastsinn in die Steinskulpturen einzudringen, damit sie so zu einem sinnlichen und geistigen Erlebnis werden.

Stella Barmettler

(aus Werkkatalog 1996-2005)